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Auszug - Gesamtschule (Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 15.11.2007)  

 
 
Öffentliche/nichtöffentliche Sitzung des Rates der Stadt Lüneburg
TOP: Ö 5.3
Gremium: Rat der Hansestadt Lüneburg Beschlussart: ungeändert beschlossen
Datum: Do, 28.02.2008    
Zeit: 17:00 - 20:30 Anlass: Sitzung
Raum: Huldigungssaal
Ort: Rathaus
VO/2674/07 Gesamtschule (Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 15.11.2007)
   
 
Status:öffentlichVorlage-Art:Antrag der Fraktion DIE LINKE
Federführend:01 - Büro der Oberbürgermeisterin Beteiligt:Bereich 56a - Bildung
Bearbeiter/-in: Gieseking, Stefan   
 
Wortprotokoll
Beschluss

Der Tagesordnungspunkt wurde gemeinsam mit TOP 6

Der Tagesordnungspunkt wurde gemeinsam mit TOP 6.2 beraten.

 

Beratungsinhalt:

 

Ratsherr RIECHEY beantragt die gemeinsame Überweisung zusammen mit dem Antrag zu TOP 6.2 in den Schulausschuss. Deutschland sei innerhalb der OECD das Land, in dem der Bildungserfolg am stärksten von der sozialen Herkunft abhänge. Anders gesagt gebe es kein anderes westliches Industrieland mit einem derart ungerechten Bildungssystem wie in Deutschland. Hauptschüler kämen zumeist aus klassisch bildungsfernen Schichten, während über 80 % der Gymnasiasten aus höheren gesellschaftlichen Klassen stammten. Dies wolle man durch eine neue Schulform ändern. Es gehe darum, eine integrierte Gesamtschule in Lüneburg zu schaffen. Im Antrag habe man einen ersten Standortvorschlag gemacht als Auftakt der Debatte, wobei sich inzwischen herausgestellt habe, dass die baulichen Fördermittel am Kreideberg an das dortige Schulkonzept gebunden seien. Bei der Standortsuche sei man aber offen, wichtiger sei es, heute zu zeigen, dass es eine politische Mehrheit im Stadtrat für eine integrierte Gesamtschule in Lüneburg gebe. Das halte er für möglich, da nicht nur seine Fraktion, sondern auch die Grünen und die SPD sich im Landtagswahlkampf für eine integrierte Gesamtschule ausgesprochen haben. Selbst die CDU habe erkannt, dass man sich dem Wunsch vieler Eltern nicht länger verschließen könne. Eine Unterschriftenaktion in 21 Grundschulen habe zu dem Ergebnis geführt, dass Eltern von 316 Kindern ihre Kinder noch in diesem Sommer gerne an einer neuen Gesamtschule anmelden würden, weitere 1600 Bürger haben sich in Unterschriftenlisten für eine Gesamtschule ausgesprochen. Inzwischen haben sich in Lüneburg der Verein „Eine Schule für Alle“ sowie die Initiative „Sinn“ gegründet, auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft unterstütze die Forderung, da das gegliederte Schulsystem die Situation verschärfe, dass Kinder armer Familien schlechtere Bildungschancen haben. Das aktuelle Schulgutachten zeige auf, dass selbst bei einer Zusammenlegung von Haupt- und Realschule zukünftig Leerstand entstehe, während die Gymnasien überbelegt würden. Mit einer gemeinsamen Gesamtschule werde man den Erfordernissen wesentlicher stärker gerecht. Überdies stehe im Gutachten, dass eine Gesamtschule mit vier bis sechs Zügen die bestehenden Schulen nicht gefährde. Angesichts dieser breiten Zustimmung aus allen Bereichen stelle sich die Frage, was ernsthaft gegen eine integrierte Gesamtschule in Lüneburg spreche. Im Schulausschuss könne man unter Mithilfe aller Beteiligten ein geeignetes Konzept entwickeln und dadurch endlich einen Schritt weiter kommen.

 

Bürgermeister DR. SCHARF gibt zu Bedenken, dass dieses Thema seit jeher in verschiedenen Variationen diskutiert werde. Gegenwärtig sei es nach dem Schulgesetz aus dem Jahre 2004 nicht zulässig, neue Gesamtschulen zu errichten. Im Herbst letzten Jahres habe Ministerpräsident Wulff die Aussage gemacht, dass diese Vorschrift wahrscheinlich unter gewissen Voraussetzungen gelockert werden solle, nach der aktuellen Regierungserklärung werde dieses Verbot sogar aufgehoben. Die CDU-Fraktion im Stadtrat wolle nicht noch einmal die unsägliche Strukturdiskussion der letzten zehn Jahre aufleben lassen, das würde nichts anderes bedeuten, als sich erneut in den Ideologiegräben zu verschanzen. Jedoch könnten auch Befürworter von Gesamtschulen in der ersten Pisastudie ausdrücklich nachlesen, dass die Qualität von Schulen nicht von deren Struktur abhänge, sondern vor allem von der inneren Organisation, dem Schüler-Lehrer-Verhältnis und dem Schüler-Eltern-Verhältnis. Es gebe im Land Niedersachsen durchaus hervorragend arbeitende Gesamtschulen, genauso wie man hervorragend arbeitende Schulen im dreigliedrigen Schulsystem finde. Man wolle Schule und Schüler stark machen, indem man in den Schulen darauf achte, dass die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler erkannt, gefördert und ausgebaut werden. Dazu brauche man motivierte Lehrer und angemessene Klassenfrequenzen. Das gelte für jede Schulform. Zudem müssten die Lerninhalte in den Schulen – besonders in den Gymnasien – entrümpelt werden. Man könne nicht von dreizehn auf zwölf Schuljahre reduzieren ohne die Inhalte anzupassen. Man dürfe die Schüler nicht nur mit Wissen voll stopfen, vielmehr müsse zunehmend darauf geachtet werden, dass auch die emotionale Komponente berücksichtigt wird, damit die Schüler am Nachmittag ihre sozialen Kontakte vertiefen können. Auf diese drei Punkte komme es besonders an. Konkret für Lüneburg heiße dies, keine Schnellschüsse zu machen, sondern die Ergebnisse des Schulgutachtens exakt zu analysieren und zu überprüfen. Zudem müsse man abwarten, welche Änderungen des Schulgesetzes die Landesregierung vornehme und welche Voraussetzungen für Gesamtschulen es dann gebe. Es könne doch nicht angehen, dass eine Initiative eine wilde Umfrage an Grundschulen durchführe, das könne nicht die Basis für eine verantwortliche Schulpolitik sein. Dies lasse sich nur durch eine klar strukturierte und überprüfbare Umfrage der Landesschulbehörde sowie durch eine genaue Auswertung und Diskussion der Ergebnisse des Schulgutachtens erreichen, mit dem Ziel des Erhalts möglichst aller bestehenden Schulen und damit der Sicherung eines wohnortnahen Schulangebotes. Danach sei zu prüfen, ob ein weiteres Angebot in Form einer Gesamtschule möglich ist. Man müsse sich von der Vorstellung lösen, dass Schüler schon alleine deshalb besser würden, indem man sie in eine andere Schulform schicke. Lernen sei immer ein harter Prozess und erfordere eine große Anstrengung, egal in welcher Schulform.

 

Beigeordnete LOTZE unterstützt den Vorschlag der Überweisung beider Anträge in den Schulausschuss. Deutschland sei bekanntlich ein ansonsten rohstoffarmes Land, daher gelte es, den vorhandenen Rohstoff in den Köpfen so gut wie möglich zu fördern. Die vorliegenden Untersuchungen belegten, dass das vorhandene Schulsystem offenbar nicht in der Lage sei, diesen Rohstoff so gut zu fördern, dass er optimal genutzt werden könne. Es gebe zu viele Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen und es gebe im Vergleich zu den europäischen Nachbarn eine niedrige Abiturquote. Deutschland stehe mit seinem Schulsystem im europäischen Vergleich ziemlich alleine da, auch Österreich, das bisher ein vergleichbares System hatte, setze inzwischen ganz verstärkt auf eine Umstellung hin zu einer gemeinsamen Schule. Es helfe nicht, eine ideologische Debatte zu führen, man müsse sich vielmehr die Frage stellen, welches die beste Lösung sei, um allen Kindern – gleich aus welcher Herkunftsfamilie sie kommen – die besten Bildungschancen einzuräumen. Hier gebe es unterschiedliche Auffassungen, einige Eltern und Politiker haben eine hohe Wertschätzung für das bestehende Schulsystem, andere bevorzugten eine gemeinsame Schule als neue Form. Richtig sei, dass man eine neue Angebotsschule brauche, um jenen Eltern eine Perspektive zu geben, die diese Schulform für den besseren Weg halten. Sie halte die genannte Unterschriftensammlung nicht für eine wilde Aktion, sondern hier hätten sich Eltern dafür eingesetzt, etwas Gutes für ihre Kinder zu erreichen, das müsse man honorieren. Korrekt sei aber auch, dass § 12 des Schulgesetzes nach wie vor gelte, auch wenn in der Regierungserklärung erneut gesagt wurde, dass etwas Neues kommen werde. So lange aber nichts vorliege, könne man nur die vorliegenden Anträge in den Schulausschuss verweisen und abwarten, was das Gesetz künftig aussage. Wichtig sei für ihre Fraktion, dass eine gute Qualität Vorrang vor Schnelligkeit habe. Realistisch müsse man davon ausgehen, dass eine Umsetzung erst im Jahre 2009 möglich sein werde. Denkbar sei es, dass der Landkreis Träger der Schule werde, da es eine Angebotsschule für den gesamten Landkreis werden solle. Sie bitte Herrn Althusmann, nach Hannover mitzunehmen, dass das Aufhebungsverbot allein nicht ausreiche, um den gewünschten Erfolg zu bringen. Eine solche Schule müsse ausreichend mit Lehrkräften und Mitteln ausgestattet werden, um vernünftigen Unterricht zu gewährleisten.

 

Ratsherr NOWAK verweist darauf, dass die SPD sehr schnell aus dem Schulgutachten erkannt habe, dass man eine Gesamtschule brauche, während Herr Dr. Scharf heute gesagt habe, dass man bei weitem noch nicht so weit sei. Hier sollte sich die Mehrheitsgruppe im Rat doch einigen, ansonsten werde eine Gesamtschule nicht 2009 realisiert, sondern wohl erst 2015. Was momentan in den Hauptschulen passiere, sei für ihn im Grunde genommen das deutliche Zeichen, das die schulpolitische Realität jetzt dort angekommen sei. An den Haupt- und den Realschulen habe man keine kooperativen Systeme, diese liefen vielmehr nebeneinander her und nicht zusammen. Ein Modell mit einfach nur gemeinsamem Unterricht funktioniere nicht. Eine Lösung sei dringend notwendig auch für die Gymnasialschüler, die zum Teil in Klassen bis zu 34 Schülern und in Außenstellen unterrichtet würden und denen dadurch teilweise keine Fachräume zur Verfügung stünden. Die Lösung unabhängig von jeder Ideologie sei eine zusätzliche Schule, dies könne eine Gesamtschule sein. Die CDU dürfe nicht wieder den Fehler machen, das Thema in die Warteschleife zu schieben. Er erinnere daran, dass der Rat auch bei anderen Projekten – wie etwa der Ganztagsschule – schon vor der abschließenden gesetzlichen Verankerung voran gegangen sei und im Vorfeld alle Voraussetzungen geschaffen habe, um dann bei der Antragstellung an erster Stelle zu stehen. Man dürfe schließlich nicht erwarten, dass Lüneburg die einzige Stadt sein werde, die eine Gesamtschule beantragen werde.

 

Beigeordnete SCHELLMANN merkt an, dass eine Systemdebatte überflüssig sei, da sie nur Zeit und Kraft koste, dies hätten die letzten Jahre gezeigt. Es werde eine Gesetzesänderung geben, da sie aber noch nicht vorliege, solle man abwarten, um zu wissen, worauf man sich einlasse. Das Schulgutachten bestätige, dass es durchaus einen Schulbedarf gebe, das müsse aber nicht unbedingt in Lüneburg selbst sein, Schulen fehlten woanders. Daher teile sie nicht die Meinung, dass man zur Realisierung einer Gesamtschule schon jetzt in die Startlöcher gehen müsse. Es gebe keine gesicherten Forschungsergebnisse, dass Kinder in einer Gesamtschule wirklich besser gefördert würden als in anderen Schulformen. Wissenschaftliche Untersuchungen besagten vielmehr, dass der soziale Chancenausgleich und individuelle Bildungserfolge gerade in Einheitsschulen keineswegs besser gelängen. Nicht nur leistungsstarke, auch leistungsschwächere Schüler profitierten danach von einer ab dem fünften Jahrgang einsetzenden Differenzierung in drei getrennten Bildungswegen. Ebenso sei wissenschaftlich bewiesen, dass die Behauptung, die Leistungsüberlegenheit gemischter Lerngruppen sei vorteilhaft gegenüber homogenen Gruppen, nicht zutreffe, auch wenn dies vielfach anders empfunden werde. Ebenso werde oft behauptet, dass die Schuleignungsprognose nach der vierten Grundschulklasse ebenso treffsicher wie nach der sechsten Klasse sei. Die immer wieder abgelehnten Leistungskontrollen in den Grundschulen förderten – allen entgegen gesetzten Auffassungen zum Trotz – die Lernfreude und Lernmotivation. Der schulische Umgang mit Differenzierungsproblemen gelinge nach diesen Untersuchungen in der herkömmlichen Schulform besser als in den integrierten Gesamtschulen. Demgegenüber werde immer wieder behauptet, dass Finnland genau das Gegenteil beweise. Das gelte jedoch nur auf den ersten Blick, Finnland habe die Gesamtschule eingeführt, weil es ein Flächenland mit geringer Einwohnerdichte und ein anderes System daher dort nicht finanzierbar sei. Dennoch gebe es eine ausgesprochene Differenzierung in Form sehr kleiner Klassen, in denen eine individuelle Förderung schwächerer Schüler schon während des Unterrichts durch zusätzliche Lehrkräfte sichergestellt werde. Zudem bestünden auch in Finnland formal einheitliche Schulen, die jedoch tatsächlich Eliteschulen seien. Es komme nicht auf die verschiedenen Systeme an, sondern darauf, die individuelle Förderung des einzelnen Kindes unabhängig von dessen häuslichen Möglichkeiten zu gewährleisten.

 

Beschluss:

Beschluss:

 

Der Rat der Hansestadt Lüneburg überweist den Antrag einstimmig zur weiteren Beratung in den Schulausschuss.

 

(56a)